Wenn Hass und Liebe sich umarmen

„Wie es in mir drin aussieht? Mmh, ich weiß nicht, so einsam, so leer. Ich vermisse meinen Freund, ich vermisse mich selbst, meine Identität. Das Gefühl etwas zu sein, etwas Gutes. Etwas Normales etwas Menschliches. Das ist das was mir fehlt. Ich kann niemandem vertrauen, bin nichts wert!“

Seit ich diese Worte und noch viele andere Aussagen in der E-Mail einer 15- jährigen Schülerin las und später erfuhr, dass sie an einer Borderline-Störung leidet, ist meine Interesse daran stetig gewachsen. Bei meiner Tätigkeit als Krisenberaterin für junge suizidale Menschen, die mir viel Spaß macht, stoße ich auch immer wieder auf Menschen mit einer Borderline-Störung. Fragen wie: was sind Anzeichen für eine Borderline-Störung? Wie erkenne ich, dass ein Jugendlicher oder Erwachsener Borderline hat? Welche Ursachen gibt es dafür? haben sich dadurch bei mir ergeben.
Im folgenden Text möchte ich genau auf diese Fragen nach der Symptomatik, Diagnostik und den Ursachen von Boderline eingehen.

Begriffsdefinition

Der Begriff „Borderline“ wurde 1938 von Adolf Stern geprägt. Er basiert auf einem von Sigmund Freud entwickelten psychoanalytischen Grundverständnis. Dabei definierte er die Störung als ein „psychisches Kontinuum zwischen Neurose und Psychose“. So kann „Borderline“ als eine unscharfe und fluktuierende „Grenzlinie“ zwischen Neurose und Psychose definiert werden. Heute wird die Borderline- Störung den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet.

Häufigkeit

Das Aufführen verlässlicher Zahlen zum Vorkommen der Borderline-Störung in der Allgemeinbevölkerung ist schwierig, da die Zahlen je nach Autor schwanken und auch große Diskrepanzen auftreten. Bohus spricht von einem Anteil von 1,2% an der Gesamtbevölkerung, Swartz und Blazer von 1,8% im DSM IV werden 2,0% genannt. Unumstritten ist dagegen der wesentlich höhere Anteil erkrankter Frauen. In klinischen Untersuchungen pendeln die Zahlen zwischen 70 und 75%. Feldstudien finden aber eine geringer ausgeprägte Geschlechterdifferenz von 60% Frauen zu 40% Männern. Interessant ist meiner Meinung nach auch, dass sich nach Bohus unter den Berufsbezeichnungen von Menschen mit Borderline-Störung in erster Linie „Sozialberufe wie Krankenschwestern, Altenpfleger und Erzieher“ finden.

Konzepte der Bordelinestörung

Borderline-Störungen im DSM IV

Das Konzept der Borderline- Störung wurde in offiziellen Klassifikationssystemen psychiatrischer Krankheiten lange Zeit ignoriert. Erst im DSM III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) 1980 wurde die Borderline- Störung aufgenommen und in den Bereich der Persönlichkeitsstörungen eingeordnet. Hierfür bildeten acht Punkte einen Kriterienkatalog Im DSM IV kam dann noch ein neuntes Kriterium dazu. Diese deskriptive Sichtweise, die aber alleine Symptome beschreibt, gilt heute als „allgemein anerkannt“.

Ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen.

Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
  • Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die im Kriterium 5 enthalten sind).
  • Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
  • Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
  • Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgabe, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“) (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind).
  • Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder selbstverletzendes Verhalten.
  • Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
  • Chronische Gefühle von Leere.
  • Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
  • Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

(zitiert aus Bohus, 2001, S. 5 f)

Klinische Symptomatik

Auf klinischer Ebene kann man die Symptomatik von PatienInnen mit Borderline-Störung in fünf Problembereiche gliedern:

1. Problembereich Affektregulation
Hierunter versteht Bohus „zum einen niedrige Reizschwellen für die Auslösung von Emotionen, zum zweiten hohe Erregungsniveaus, dass heißt sehr heftige Emotionen, und schließlich die verzögerte Rückbildung auf das emotionale Anfangsniveau.“ Hierbei wird ein „Gefühlswirrwar“ erlebt, Emotionen überfluten die PatientInnen und es kommt zu starken aversiven Spannungszuständen. Da diese Spannungszustände häufig (besonders in Stresssituationen) sehr schnell auftreten und sich aufschaukeln, sind sie kaum zu kontrollieren. Dazu treten nach Bohus bei 60 % der PatientInnen während der aversiven Anspannung dissoziative Symptome auf (d.h. „passagere Störungen der Selbst- und Realtitätswahrnehmung unter Einschränkung der sensorischen Reizverarbeitung“). Daneben kann es auch zu plötzlicher emotionaler Taubheit kommen.

2. Problembereich Selbst und Selbstbild
Ein weiteres Merkmal bei Borderline-Störungen auf klinischer Ebene ist ein tief greifendes Gefühl der Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität und Integrität. Hier fällt es den PatienInnen schwer zu erklären, wer sie wirklich sind, sie fühlen sich weit entfernt von sich selbst und der eigene Körper wird sehr negativ eingeschätzt.

3. Problembereich psychosoziale Integration
Im Mittelpunkt dieses Bereiches stehen das Gefühl „anders zu sein als alle anderen“ und Schwierigkeiten mit der Regulation von Nähe und Distanz. Die Abwesenheit wichtiger Bezugspersonen wird dabei mit manifester Verlassenheit verwechselt. Daraus entsteht der Versuch, wichtige Menschen für immer ganz fest an sich zu binden. Dabei kommt es in der Geschichte der PatientInnen immer wieder zu Trennungs- und Wiederannäherungsprozessen.
Auch „passive Aktivität“, d.h. durch Demonstration von Hilflosigkeit und Leid Unterstützung zu erlangen und Kontakte aufzunehmen kann nach Bohus beobachtet werden, was häufig zu einer Überlastung der Sozialkontakte führt

4. Problembereich kognitive Funktionsfähigkeit
Wie schon im Bereich Affektregulation beschrieben, kommt es häufig zu dissoziativen Symptomatiken. Dabei sind die Phänomene häufig nicht nur an bestimmte Auslöser gekoppelt, sondern generalisiert. Dazu kommen dann „Flashbacks“, d.h. „szenisches Wiedererleben von traumatischen Ereignissen, die zwar kognitiv der Vergangenheit zugeordnet werden, emotional jedoch als real erlebt werden.“ Häufig werden diese Flashbacks aber als psychotisches Erleben fehlverstanden.

5. Problembereich Verhaltensebene
Bei einem großen Anteil der Menschen mit Borderline- Störungen kommt es zu selbstverletzendem Verhalten (nach Bohus bei etwa 70% bis 80%). Dazu zählt das Zufügen von Schnittwunden (die sie oft über den ganzen Körper ausbreiten), „head-banging“ (Schlagen mit dem Kopf gegen eine harte Fläche), Brennen, Verbrühen und Verätzen, „Strangling“ (=Würgen) oder das Zufügen von Stichwunden. Nach Bohus geschieht dies zu 80% in einem Zustand, in dem die Schmerzen nicht gespürt werden (analgetischer Zustand). Als Effekt beschreiben Menschen mit Borderline-Störung ein Gefühl der Entspannung, Entlastung, Ruhe und Geborgenheit. Erst nach ca. 20 Minuten stellt sich dann das Körperempfinden wieder ein. Ein weiteres Muster auf der Verhaltensebene stellt das Hochrisikoverhalten dar (z.B. Balancieren in großen Höhen, Rasen auf der Autobahn…).

Dabei sind diese Verhaltensmuster als Methoden zur „Reduktion aversiver Spannungszustände oder schwer dissoziativer Symptome“ zu sehen oder werden zur Regelung von Ohnmachtsgefühlen eingesetzt.

Bei 20% der PatientInnen werden dagegen Selbstverletzungen eingesetzt um subeuphorisches Verhalten auszulösen. Dazu zählt die Verbesserung der Stimmung, der Kreativität und der Konzentration. Weitere problematische Verhaltensmuster sind Drogenmissbrauch, Promiskuität (= Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern), pathologisches Kaufverhalten, Zwangshandlungen, aggressive Durchbrüche oder gestörtes Essverhalten.

Modelle zur Entstehung der Borderline-Störung

Über die Ursachen von Borderline- Störungen gibt es verschiedene Theorien und Ansätze. Einigkeit besteht jedoch weitgehend darüber, dass es sich um eine Beziehungsstörung handelt, die in der kindlichen Entwicklung begründet liegt. Häufig sind ein oder mehrere traumatische Erlebnisse (z.B. sexueller Missbrauch) die Auslöser. Auch können Verlusterlebnisse in der Kindheit, emotionale Vernachlässigung, Konflikte im Jugendalter sowie eine überbehütete Kindheit Ursachen für Bordeline – Störungen sein.

Ursachen in der Identitätsentwicklung

Nach dem Konzept von Daniel N. Stern liegen weitere Ursachen der Borderline- Störung in der Identitätsentwicklung
Es bedarf beim Säugling und Kind immer wieder aktiver seelischer Leistungen, um Identität herzustellen. Dies trifft bereits auf die ersten Schritte im Prozess der Entwicklung des Selbstempfindens im Säuglingsalter zu. Nach Hofmann beschreibt Stern die Entwicklung der Selbstempfindungen in verschiedenen Phasen: Das Gefühl des auftauchenden Selbst von der Geburt bis zum zweiten Lebensmonat, die Entwicklung des Kern- Selbst im zweiten bis zum siebten Lebensmonat, das Gefühl des subjektiven Selbst (7. bis 9. Lebensmonat) und das Gefühl des sprachlichen Selbst (18. Lebensmonat) und schließlich die Identitätsentwicklung bis ins Jugendalter. Kommt es in den verschiedenen Phasen der Identitätsentwicklung zu gravierenden Störungen und Unsicherheiten, wird die Entwicklung dadurch nachhaltig beeinflusst Hier können dann schon die Wurzeln für das Entstehen einer Borderline- Persönlichkeitsstörung liegen.

Besonders in der Phase des Kernselbst, in der ein integriertes Selbstgefühl, des Gefühls, sich von anderen zu unterscheiden, herausgebildet wird „spielt das Erleben von „bindungsrelevanter Sicherheit (Attachment – Erleben) und von feinfühligem Elternverhalten eine wesentliche Rolle“. Auch wichtig ist die Fähigkeit der Bezugspersonen, Verhalten zurückzuspiegeln und Kontinuität zu gewährleisten sowie die Erfahrung, dass andere von der eigenen Person unabhängige Personen sind. Wenn es dagegen zu negativen Beziehungserfahrungen (wie z.B. dem Verhindern von Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, dem Nicht- Respektieren von Kindlichen Grenzen und Abgrenzungswünschen oder zu gravierenden Erfahrungen der Unzuverlässigkeit sowie Unberechenbarkeit) kommt, kann dies negative Folgen haben und im weiteren Verlauf auch eine Entstehung der Borderline- Störung begünstigen.

Durch die moderne Säuglingsforschung sowie bindungstheoretische Ergebnisse kann man davon ausgehen, dass die Herausbildung der Borderline- Störung ab dem fünften bis sechsten Lebensjahr beginnt und Regulationsstörungen ab dem achten bis zehnten Lebensjahr festgestellt werden können.

Resümee

Nachdem ich mich für diesen Text ausführlich mit verschiedenen Konzepten und Ansätzen über die Borderline- Störung auseinandergesetzt habe, sind mir verschiedene Dinge klarer geworden. Zum Einen der Fakt, dass es nicht DIE Symptomatik oder Diagnostik und auch nicht DIE Ursache für eine Borderline Störung gibt! Das Wissen um mögliche Symptomatiken und Ursachen kann aber die Arbeit im Umgang mit Menschen mit Borderline- Störung sehr erleichtern, wenn man nicht den Fehler macht, den Menschen rein deskriptiv zu betrachten und nur seine Störung zu sehen. Auch scheint mir die Welt der Borderline- Störung manchmal gar nicht so weit weg von unserer als „normal“ definierten Welt zu sein.

Für meine Arbeit mit Jugendlichen als Krisenberaterin hat mir die Auseinandersetzung mit diesem Thema ein wenig Hilflosigkeit genommen und Sicherheit gegeben und ich möchte sie mit den Worten von der 15 jährigen Schülerin schließen:

„Aber ich gebe nicht auf! Ich bin mehr, viel mehr als diese Krankheit!!“

Daniela Ball

Literaturangabe

  • Bohus, Martin (2002). Borderline- Störung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe- Verlag GmbH & Co. KG
  • Dulz, Birger; Schneider, Angela (2001). Borderline- Störungen. Theorie und Therapie. Stuttgart, New York: Schattauer. Dritter Nachdruck der 2. Auflage
  • Hofmann, Ronald (2002). Bindungsgestörte Kinder und Jugendliche mit einer Borderline-Störung Ein Praxisbuch für Therapie, Betreuung und Beratung. Stuttgart: Klett- Cotta
  • Hufnagel, G & Fröhlich- Gildhoff Klaus (2002). Die Entstehung seelischer Störungen- betrachtet aus einer personenzentrierten und entwicklungspsychologischen Perspektive. In: Boeck-Singelmann et al. Personenzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Band 1. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe- Verlag GmbH & Co. KG
  • Janssen, Paul (2001) Psychoanalytische Konzepte der Borderline- Struktur. In: Dammann, Gerhard; Janssen Paul (Hrsg) (2001). Psychotherapie der Borderline- Störungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis- störungsspezifisch und schulenübergreifend. Stuttgart; New York: Thieme
  • Leichsenring, Falk. (2003) Borderline- Stile. Denken, Fühlen, Abwehr und Objektbeziehungen- eine ganzheitliche Sichtweise. Göttingen: Verlag Hans Huber. 2. vollständige überarbeitete und erweiterte Auflage
  • Stiglmayr, Christian (2003). Spannung und Dissoziation bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften